Frühgeburt

Psychisches Befinden vor und nach einer Entbindung von frühgeborenen Kindern

– eine Information für Betroffene und Angehörige –

Die Geburt von zu früh geborenen Kindern (Frühchen) stellt in der Regel für die betroffenen Eltern eine erheb­liche psychische Belastung dar, die umso größer ist, je unreifer das Kind geboren wird. Als Frühgeborene gelten Kinder, die vor der vollendeten 37. Schwangerschaftswoche geboren werden. Besonders Mehrlings­schwanger­schaften enden nicht selten in einer Frühgeburt, besonders bei höhergradigen Mehrlingen (Drillingen, Vier­lingen).

Vor der Entbindung

Frühgeburten haben sehr unterschiedliche Ursachen. Sie treten manchmal unerwartet und schnell ein. Manch­mal liegen werdende Mütter bereits in der Schwangerschaft mit Komplikationen und drohender Frühgeburt über eine längere Zeit im Krankenhaus. Kündigt sich eine Frühgeburt an, müssen sich die werdenden Eltern wohl oder übel mit den eventuellen Folgen auseinandersetzen. . Insbesondere dann, wenn mit einer sehr frühen Geburt, zwei, drei oder gar vier Monate vor dem normalen Geburtstermin gerechnet werden muss.

Es gibt Eltern, die versuchen, möglichst wenig über die Auswirkungen eines zu frühen Geburtstermins nachzu­denken. Andere informieren sich ausführlich über mögliche Komplikationen und Aussichten für die Kinder.

Muss die werdende Mutter über einen größeren Zeitraum Bettruhe einhalten, ist dies häufig eine Zeit, in der viele besorgniserregende Gedanken im Kopf kreisen. Durch die eingeschränkte Beweglichkeit und die fehlende soziale und evtl. auch berufliche Routine ist die Neigung zu Grübeleien besonders groß. Die werdenden Mütter und auch die Partner berichten über Gefühle der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins. Viele Betroffene fragen sich, warum sie nicht eine normale Schwangerschaft erleben können, wie alle anderen. Vielen Eltern wird bereits in dieser Zeit deut­lich, dass sie sich von den bisherigen Vorstellungen und Plänen in Bezug auf das Kind verab­schieden müssen.

In manchen Fällen fühlen sich die Betroffenen bereits in dieser Phase von Bezugspersonen unverstanden und allein gelassen. Es entsteht das Gefühl, dass niemand das Befinden in dieser Ausnahmesituation nachvollziehen kann. Man­che Frauen und auch Männer erleben diese Zeit wie in einem Nebel oder einer Betäubung, so als würde ein Film ablaufen, der mit ihnen selbst nichts zu tun hat. Das ist Ausdruck der akuten Belastung. Gefühle wie Traurigkeit, Ver­zweiflung, Ängste und Ärger können sich einstellen. Vielen Frauen macht dieses Wechselbad der Gefühle“ besonders zu schaffen. Die Bewältigung dieses bevorstehenden einschneidenden Lebensereignisses erfordert von den Betroffe­nen eine Menge Kraft.

Nach der Entbindung

Eine Frühgeburt und die Zeit danach können als Schock erlebt werden. Vor allem, wenn die Geburt plötzlich eintritt oder wegen drohender Gefahr für Mutter oder Kind ein Kaiserschnitt durchgeführt werden muss. Manchmal müssen in dieser Situation vom Paar noch schnell Entscheidungen getroffen werden. Droht die Frühgeburt in einer ganz frühen Schwangerschaftswoche, dann  könnten die Eltern gefragt werden, ob sie möchten, dass ärztlicherseits alles Erdenk­liche für das Kind getan wird, damit es – auch wenn schwere Gesundheitsbeeinträchtigungen drohen – am Leben er­halten wird, oder ob es (z.B. in den Armen der Eltern) versterben darf.

In den ersten Tagen nach der vorzeitigen Entbindung nehmen die Eltern nicht selten sehr ambivalente Gefühle bei sich wahr. Freude und Stolz auf das Kind – oder bei Mehrlingen gar auf die zwei, drei oder vier Kinder – werden gedämpft durch die Sorge um mögliche Komplikationen. Irritierend kann das eventuelle Ausbleiben der erwarte­ten Mutter- bzw. Vatergefühle sein – einerseits vielleicht dadurch bedingt, dass keine Zeit bestand, sich auf die Geburt einzustellen, anderer­seits durch die technische Umgebung, wie etwa den Inkubator, der kaum Körper­kontakt zulässt, verursacht. Je nach Schwangerschaftswoche  und Entwicklungsstatus  bei der Geburt des Kindes variieren die Sorgen um das Über­leben des Kindes, über evtl. notwendig werdende Operationen, mögliche geistige und körperliche Behinderungen bis zur täglichen Sorge um die Gewichtszunahme und irgendwann dann den Entlassungstermin  aus der Intensivstation.

Hinzu kommen bei der Mutter direkt nach der Geburt eventuell körperliche Schmerzen nach einem Kaiserschnitt und die Hormonumstellung in den ersten Tagen nach der Entbindung, die ebenfalls Einfluss auf das Wohlbefinden nehmen kann.

Die Intensivstation ist für die Eltern eine fremde und künstliche Umgebung. Viele Eltern berichten über Gefühle der Machtlosigkeit gegenüber der Natur, der Medizin und Hilflosigkeit gegenüber dem Kind. Zudem setzen sich viele Frauen damit auseinander, warum gerade ihnen so ein Schicksal widerfährt. Nicht selten stellen sie ihren Körper und ihre Fähigkeiten, ein Kind auszutragen, generell in Frage. Schuld- und Versagensgefühle können aufkommen, das Kind nicht bis zum Ende ausgetragen zu haben.

Entlassung der Mutter aus der Klinik

Kann die Mutter entlassen werden, während das Frühchen noch in der Klinik verbleiben muss, wird dies sehr unter­schiedlich erlebt. Manche Frauen sind froh, den Klinikablauf hinter sich zu lassen und in die eigenen vier Wände zu­rück­zukehren. Andere würden lieber die unmittelbare Nähe zum Kind aufrechterhalten. Vor allem, wenn Eltern weiter weg wohnen und vielleicht sogar ein Zimmer in der Nähe gemietet werden muss, um jeden Tag das Kind besuchen zu können, wird die Entlassung eher als zusätzliche Belastung gesehen. Nach dem Klinik­aufenthalt wieder das Zuhause zu betreten, ohne sein Baby mitzubringen, ist für viele Betroffene ein schwieriger und gefühlsmäßig sehr belastender Moment; die Wohnung/das Haus kommt ihnen leer vor. Und je nach Dauer des Klinikaufenthalts wird noch lange keine Normalität einkehren. Viele Paare und vor allem die Mütter fühlen sich nach der Entlassung extrem überfordert. Sie müssen die neue Situation und die Gefühle bewältigen, evtl. Milch abpumpen, in die Klinik fahren, vielleicht Geschwisterkinder versorgen. Besuche, Haushalt etc. kommen noch dazu.

In der Betreuung ihrer frühgeborenen Kinder erleben die meisten Eltern das Wechseln von Bangen und Hoffen von Tag zu Tag. Es ist das zähe Warten auf kleine Fort- und Entwicklungsschritte und die immer vorhandene große Angst, beim nächsten Besuch über neu aufgetretene Komplikationen informiert  zu werden. An lang­fristigere Planungen will man gar nicht denken, und doch drängen sich Bilder auf, wie das Kind sein wird – als Kindergarten- und Schulkind, als Jugend­­licher und als Erwachsener. Gerade in dieser Zeit stehen Gefühle der Hilflosigkeit im Vordergrund. Nur zu­schauen, das Kind selten anfassen, kaum etwas für das Kind tun zu können, die Nähe zu vermissen, ist für viele Eltern in dieser Zeit das Schwerste.

Gar nicht selten kommt es in dieser Zeit, in der alle Beteiligten sehr belastet sind, auch zu Partnerschafts­konflikten. Darin spiegelt sich nicht unbedingt eine problematische Partnerschaft wider, sondern oft nur die extreme Anspannung beider Elternteile. In den ersten Tagen fühlt sich der Mann nicht selten alleine verantwort­lich für viele Entscheidungen. Nimmt er seine Arbeit wieder auf, kommt eine Doppelbelastung auf ihn zu, aber auch eine gute Ablenkungs­möglich­keit. Die Aufmerksamkeit der Frau richtet sich dagegen zunächst uneinge­schränkt auf das Kind, was Enttäuschungen beim Partner hervorrufen kann. Zudem gehen Männer und Frauen meist sehr unterschiedlich mit Belastungs­situa­tionen um. Aus Differenzen sollten in dieser schwierigen Situation möglichst keine Konsequenzen gezogen werden. Solche Probleme sind ein Grund, sich professionelle Hilfe bei der Bewältigung der Belastung zu holen.

Was hilft?

Am wichtigsten erscheinen die Gespräche mit den Neonatologen, die über den Zustand und die Aussichten des Kindes Auskunft geben können. Wird psychologische Unterstützung angeboten, sollte diese unbedingt in An­spruch genom­men werden – es ist kein Zeichen von Schwäche, sondern vielmehr von Stärke, sich in einer solchen Situation Unter­stützung zu holen. Oft geht es in solchen Gesprächen dann auch um gefühlsmäßige Auswirkungen der praktisch-organi­­satorische Aspekte, wie etwa den Spagat zwischen der häufigen Anwesenheit auf der Neuge­borenen­intensiv­station und der Versorgung älterer Kinder, die vielleicht bisher nie längere Zeit ohne ihre Mutter waren. Viele Be­troffene erleben es als entlastend, mit anderen Eltern zu sprechen, die ähnliches erleben oder erlebt haben. So etwas ist beispielsweise möglich durch Kontakte zu einer Selbsthilfegruppe.  Bei länger dauern­den depressiven Reak­tionen kann eine psychotherapeutische Behandlung sinnvoll werden.

 Weiterführende Informationen

Müller-Rieckmann E (2020) Das frühgeborene Kind in seiner Entwicklung: Eine Elternberatung. Ernst Reinhardt-Verlag

Garbe W (2011) Das Frühchen-Buch: Schwangerschaft, Geburt, das reife Neugeborene, das Frühgeborene Thieme, Stuttgart

Jorch G (2013) Frühgeburt: Rat und Hilfe für die ersten Lebensmonate. Urania-Verlag

www.fruehgeborene.de: Bundesverband „Das frühgeborene Kind“ e.V.